LN vom 15.08.2023: Segel-Senior – mit 90 noch am Ruder

LN vom 15.08.2023: Segel-Senior – mit 90 noch am Ruder

Segel-Senior: Mit 90 noch am Ruder

Lübecker Alfred Bahr ist ältestes aktives Mitglied des Segler-Clubs Hansa – Verein feiert jetzt 125-jähriges Jubiläum

Von Sabine Jung

 

Lübeck/Groß Sarau. Sanft schaukelt die kleine Kajütjacht auf den Wellen des Ratzeburger Sees, die gegen die Pfähle des Bootsstegs schlagen. Alfred Bahr greift nach dem Vorstag seiner Neptun 22, setzt einen Fuß auf die Festmacherleine und schwingt sich an Bord des Schiffes. Jede Bewegung zeugt von in über sieben Segeljahrzehnten gewachsener Routine. Mit seinen 90 Jahren ist er das älteste aktive Mitglied des Segler-Clubs Hansa (SCH), der diesen Monat sein 125-jähriges Jubiläum feiert.

„Mein Chef war Segler“, berichtet Alfred Bahr von seiner Lehrzeit als Modellbauer. „Ich habe ihm geholfen, sein Boot zu schleifen, und bin so zum Segeln gekommen.“ 1951 tritt der damals 18-Jährige dem SCH bei. Zu diesem Zeitpunkt hat der Verein, der seit 1898 an der Wakenitz in Lübeck ansässig ist, bereits mehr als fünf turbulente Jahrzehnte hinter sich.

Segeln als Sport für Handwerker: ein Novum

Gegründet haben den SCH fünf Lübecker Handwerker im Jahr 1898. Ein klassischer Arbeiterverein ist ungewöhnlich für den damaligen Nobel-Sport Segeln. Die Männer segeln in selbst gebauten Kielbooten. Ihr Bootshaus am Wakenitzufer, nahe der Ecke Bleichenweg, errichten sie größtenteils aus Eigenmitteln und in Eigenarbeit. 1914 wird es eingeweiht, seit 2022 steht das zweistöckige, mit blauem Holz verkleidete Gebäude auf der Liste der Kulturdenkmäler der Hansestadt Lübeck.

1933, in dem Jahr, in dem Alfred Bahr in Danzig zur Welt kommt, verbieten die Nationalsozialisten den „roten“ SCH. Ab 1938 dürfen die Arbeiter-Segler ihr Bootshaus zwar wieder nutzen, aber nur unter Nazi-Regie, bis es die Briten von 1945 bis 1948 für ihren „British Lübeck Yacht Club“ beschlagnahmen. Anschließend bekommen die Lübecker Segler „ihren“ Verein samt Bootshaus zurück.

Als 19-Jähriger baut Alfred Bahr sein erstes Boot

Alfred Bahr ist 1945 über die Ostsee nach Travemünde geflohen. Als er 1951 SCH-Mitglied wird, hat der Verein schon seinen zweiten Standort, das Gelände in Groß Sarau am Ratzeburger See, gepachtet. Bereits 1952 baut Bahr sein erstes eigenes Boot, einen Piraten aus Holz. „Kunststoff-Schiffe gab es nicht“, sagt er. Jeden Sonnabend werden die Boote die Wakenitz hinunter zum Ratzeburger See geschleppt, jeden Sonntag geht es wieder zurück. Die Segler übernachten an Bord. „Man war ja anspruchslos“, erklärt Alfred Bahr.

Doch die Ansprüche wachsen. In den 1950er-Jahren errichten die Segler ihre Wochenendhäuschen am Ratzeburger See, auch Bahr baut sich eines. Heute verfügt es über Veranda, Küchenzeile und Bad – zu Nachkriegszeiten unvorstellbarer Luxus. Die Mitglieder schaffen sich ein kleines Paradies mit Steganlage, Regattabüro, Festzelt samt Kneipe, Sanitätshaus und Spielgeräten für die Kinder.

Bei einer Sturmregatta gehen sechs Zähne verloren

Alfred Bahr segelt und segelt, absolviert bis zu 60 Regatten im Jahr, ist auch bei Deutschen Meisterschaften der Jollenkreuzer dabei. Mit seinem Bruder baut er zwei Finn-Dinghys, sportliche Ein-Mann-Boote. An Bord geht es rustikal zur Sache. Bei einer Sturmregatta 1966 nimmt Alfred unvorsichtigerweise die Schot in den Mund. „Da hat es mir dann bei einer Halse sechs Zähne rausgerissen“, erinnert er sich. Mit blutendem Mund sei er weitergesegelt. „Wir sind dann noch Vierter geworden.“ Die vorsorglich eingesammelten Zähne ließen sich allerdings nicht wieder einpflanzen.

Immer unter dem Motto „Gode Wind – Ahoi“ richtet der SCH kleine und große Regatten aus, allein oder mit den Nachbarn, dem Lübecker Segler-Verein (LSV)<https://www.ln-online.de/sport/regional/segel-bundesliga-luebecker-segler-verein-vor-umbruch-saison-das-ist-alles-neu-LNEHCOLUX5HGE7Q63GFCOT2Z5M.html> und dem Segler-Verein Wakenitz (SVW)<https://www.ln-online.de/lokales/luebeck/vier-wanderboote-fuer-den-segler-verein-wakenitz-WYY6OAGIICZIKNL7QZZ3QHKKUI.html>: Deutsche Meisterschaften (Korsar, Jollenkreuzer, Varianta, Piraten), die Shearwater-EM, Frühjahrsregatten, den Marzipan-Cup. Stets in Sichtweite auf dem Ratzeburger See ist das Ostufer, DDR-Gebiet, grün bewachsen und menschenleer. „Es gab keinerlei Berührungspunkte“, sagt Alfred Bahr.

Der Enkel träumt vom olympischen Segeln

Seine mittlerweile verstorbene Frau schenkt ihm 1988 die Neptun 22, die Alfred Bahr bis heute segelt. Bei einigen Regatten geht er weiterhin an den Start oder segelt allein auf den See und beobachtet das Wettfahrt-Geschehen dann vom Wasser aus. Seine Leidenschaft hat der 90-Jährige weitergegeben, an seinen Sohn, vor allem aber an seinen Enkel Jesper Bahr, deutscher Jugendmeister im Laser mit dem Traum von Olympia im Herzen<https://www.ln-online.de/sport/regional/travemuender-woche-warum-luebecker-talente-ein-unternehmen-fuer-ihren-olympia-traum-gruenden-LLLDKSGL7NBWHPRJNJSHZA3R4Q.html>.

Hat das Segeln Alfred Bahr so fit gehalten? Eher nicht, meint er: „Ich hatte vielmehr Glück mit meiner Gesundheit, mit meiner Frau und unseren drei Kindern – und mit meinen Ärzten.“ Und was ist seiner Meinung nach das Schönste an seinem Sport? „Entspannt zu segeln“, sagt Alfred Bahr, „und bei Regatten die Gegner ärgern.“

Quelle: Sabine Jung in den Lübecker Nachrichten vom 15.08.2023, Seite 12